: TOP-THEMA
Wennwir auch das Pferde-Genom inzwischen vollständig
entschlüsselt haben, bedeutet das nur, das wir dessen
Buchstabenabfolge kennen. Leider heißt dies nicht auto-
matisch, dass wir den Inhalt auch verstehen, denn das
Genom eines Lebewesens – gleich obMensch oder Pferd
– kann man eben nicht einfach so lesen wie ein Lexikon.
Es gibt eine Menge Artikel, die wir nicht verstehen:
von zahlreichen Genen wissen wir noch nicht, was sie
verschlüsseln. Und von noch viel mehr ausgetauschten
Buchstaben wissen wir nicht, ob der Austausch eines
Buchstaben Folgen hat und wenn ja, ob dieser von Vorteil
ist oder etwa nachteilig. Hier gibt es noch eine Menge
Lektionen zu lernen.
Und eben dafür kommt die Lineare Beschreibung ins
Spiel: Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie die Eigenschaft
„Knieaktion“ untersuchen wollen. Sie wissen zwar, dass
die Eigenschaft „Knieaktion“ erblich, also genetisch
bedingt ist, was auch tatsächlich der Fall ist. Sie wissen
aber nicht, wo und wie genau in demgenetischen Lexikon
die Information dafür verschlüsselt ist. Weder der Band
(„Chromosom“), noch der Artikel („Gen“) sind bekannt!
Dieses Rätsel können Sie allerdings lösen, wenn Sie nur
von einer großen Zahl von Pferden wissen, ob diese nun
eine ausgeprägte Knieaktion haben oder eben ein „gera-
des Bein“. Eben das lässt sich mit der linearen Beschrei-
bung sehr gut festlegen. Auf einer Skala z.B. von -3 bis
+3 erhält ein Pferd mit einem ganz geraden Vorderbein
eine -3, ein Pferdmit einer stark ausgeprägtenKnieaktion
dagegen eine +3
(Abb. 3)
.
Jetzt müssen nur viele Pferde mit geradem Vorderbein
genetisch untersucht werden und auch viele Pferde mit
einer starken Knieaktion. Da diese Eigenschaft tatsäch-
lich erblich bedingt ist, sollten wir den Unterschied auch
im Erbgut wiederfinden. An irgendeiner Stelle werden
daher die Pferde mit starker Knieaktion eine ganz cha-
rakteristische Erbinformation aufweisen, sagen wir mal
die Buchstabenabfolge „Knieaktion Top“. Genau diesen
„Text“ finden Sie immer wieder bei Pferden mit stark
ausgeprägter Knieaktion. Die Pferde, die nun gar keine
ausgeprägte Knieaktion haben, werden dagegen eher
diese Buchstabenabfolge besitzen: „Knieaktion Flop“.
Der Unterschied in unseremgenetischen Beispiel beträgt
also zwei Buchstaben: ein „T“ ist an genau dieser Stelle
gegen ein „Fl“ ausgetauscht. Dies haben Sie also durch
die exakte Bemessung einer definierten Eigenschaft –
genau das bedeutet Lineare Beschreibung–anhand einer
möglichst großen Zahl von Pferden durch Vergleich mit
deren Erbgut herausgefunden!
Sie können also jetzt ein neugeborenes
Fohlen genetisch untersuchen.
Sollte es an der identifizierten Stelle die Buchstabenfolge
„Knieaktion Flop“ aufweisen, dann wissen Sie bereits
vor den ersten Gehversuchen Ihres Fohlens, dass Sie bei
diesem Fohlen keine große Knieaktion erwarten dürfen!
Ähnlich verhält es sich mit anderen Erbeigenschaften
eines Pferdes. Grundsätzlich kann die Erbveranlagung
von Leistungsgenenwie beispielsweise Springvermögen,
Korrektheit der Gangarten oder auch Rennleistung auf
dieseWeise genetisch entschlüsselt werden – zumindest
soweit sie auch vererbt werden. Andererseits kann man
auch Gesundheitsgene untersuchen, so etwa die geneti-
sche Veranlagung zur Ausbildung von Chips, also einer
Osteochondrosis dissecans (OCD) oder etwa des Sommer-
ekzems. Nicht zuletzt sind Exterieurgene von großem
Interesse. Dazu gehört etwa das Ausmaß der Knieaktion,
Halsansatz, Tragkraft der Hinterhand, aber auchWider-
risthöhe und natürlich Fellfarbe, umnur einige Beispiele
zu nennen.
All diese Eigenschaften ließen sich also schon am Tag
der Geburt eines Fohlens recht zuverlässig aus den Erb-
informationen des Fohlens herauslesen; theoretisch –
und inzwischen auch praktisch – durchaus auch schon
vorgeburtlich!
Einige Vorraussetzungen müssen dafür jedoch erfüllt
sein und einige Besonderheiten beachtet werden:
1. Sie müssen erst gelernt haben, dass – um im Beispiel
zu bleiben – die genetische Information „Knieaktion
Flop“ bzw. „Knieaktion Top“ das Ausmaß der Knieak-
tion bestimmt. Noch wünschenswerter ist außerdem
die Kenntnis, wo die Information dazu innerhalb des
Erbgutes liegt, d.h. welche Erbanlage oder welche Erb-
anlagen das Merkmal „Knieaktion“ beeinflusst. Dafür
müssen Sie eben diese Knieaktion bei vielen Pferden
möglichst exakt festgestellt haben, was in der Fachspra-
che „quantifizieren“ heißt. Genau hierin liegt die Stärke
und Unverzichtbarkeit der Linearen Beschreibung, denn
eine 8.0 für ein Fohlen sagt zumBeispiel nichts über seine
Knieaktion aus. Eine einzelne Wertnote und auch einige
wenige Wertnoten für ein Fohlen oder ein Pferd sind ein-
fach viel zu grob. Um mit einer einzelnen Gesamtnote
zu lernen, was in welcher Form genetisch festgelegt ist
und wo, ist sie wertlos: wertlose Wertnoten! Wir müssen
schon sehr detailliert hinschauen und jede im Rahmen
unseres Zuchtzieles interessante und genau definierte
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